Ein Buch zu schreiben ist in gewisser Hinsicht damit zu vergleichen, ein Kind zur Welt zu bringen. Bis das Kind das Licht der Welt erblickt, dauert es neun Monate. An „Dismatched“ habe ich fünf Jahre geschrieben. Schon der Säugling hat seinen eigenen Kopf und mit fortschreitendem Alter entwächst ein Kind immer mehr dem Einfluss der Eltern und tritt ihnen schließlich als völlig unabhängige Persönlichkeit entgegen.
Mit meinem Buch erlebe ich es ähnlich. Je weiter es zurückliegt, dass ich die letzten Zeilen geschrieben habe, desto mehr verselbstständigt es sich.
Nach fünf Jahren ist vieles nicht mehr präsent, manche Details habe ich vergessen und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welche Kapitel aufeinander folgen. Wenn ich blättere, ist es oft so, als würde ich das, was ich doch damals selbst geschrieben habe, neu entdecken.
Und jetzt hat „Dismatched“ noch im übertragenen Sinne den Aggregatzustand gewechselt: Vom geschriebenen zum gesprochenen Wort.
Ich liebe Hörbücher und im Alltag betreibe ich eigentlich ständig Ohrenkino. Lesen ist ein zutiefst subjektiver Akt. Die klanglose innere Stimme, die einem beim Lesen zuwispert, ist die eigene, man bestimmt sein Lesetempo selbst und wenn man nicht besonders schöne Stellen mehrfach zelebriert, fliegt man in der Regel durch die Zeilen. Wenn man Glück hat und das Buch einen anspricht, schafft man sich Bilder in den Kopf.
Ein Hörbuch dagegen tritt einem völlig anders entgegen. Auch wenn man sich etwas Vorgelesenes natürlich innerlich anverwandelt, ist es zunächst einmal ein Ding in der Welt, dringt von außerhalb in den Kopf und der Grund für das Entstehen von Bildern ist eine Sinneserfahrung, die man nicht selbst bestimmt, wie die Augenbewegung beim Lesen. Man ist den Sprechern ausgeliefert, auf die man keinen Einfluss hat. Ein Hörbuch ist etwas Objektives und hat daher eine ganz andere Qualität als zu lesen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst mittelmäßige Bücher durch einen versierten Vortrag zu einem guten Buch werden können – leider gilt auch das Gegenteilige. Und genieße ich ein geliebtes und oft gelesenes Buch als Hörbuch, das von guten Sprechern vorgetragen wird, entdecke ich völlig neue Seiten darin.
Benjamin Werner ist ein guter Sprecher und betreibt auf YouTube den Hörbuchkanal „Der Vorleser“. Es ist mir gelungen, ihn von „Dismatched“ zu begeistern und er hat ein Hörbuch produziert, dessen beide Teile „Urb und Klave“ und „View und Brachvogel“ mit einer Gesamtlaufzeit von 38 Stunden auftrumpfen. Ich kann nur annähernd nachvollziehen, welche Zeit, Arbeit und Mühe es gekostet hat, den Text derart professionell einzulesen. „Thalinor“ hat die Kapiteleingangsmusiken dazu beigesteuert.
Und wenn ich mich jetzt zurücklehne und mir mein Buch vorlesen lasse, tritt es mir wieder völlig anders gegenüber, ist es völlig anders in der Welt als bisher. Es hat den Aggregatzustand gewechselt und ist nicht länger nur in meinem Kopf, sondern wird als Hörbuch vergegenständlicht von außen an mich herangetragen. Und nach all der Zeit entdecke ich im eigenen Buch völlig neue Seiten.
Germanisten nennen die unterschiedliche Wirkung eines Buches in unterschiedlichen Zeiten Rezeptionsästhetik. Ich habe bislang nicht gewusst, dass Vergleichbares auch für Autoren in Bezug auf das eigene Buch möglich ist. Aber diese Art von Rezeptionsästhetik ist für mich als Autor der ultimative Trip!